Zu dumm zum Sterben

ines Tages“, sagte der Alte und sah hinaus auf den Hof, wo Suchowsky sich gerade zu schaffen machte, „eines Tages, er muß so 29 oder 30 gewesen sein, da hatte er die Schnauze voll, wollte hinschmeißen, abhauen und endlich mal was richtig machen in seinem Leben. Aber selbst dazu war er zu blöd. Doch lassen Sie mich von vorne anfangen, damit Sie das ganze Drama richtig begreifen.

Eigentlich fing alles an dem Tag an, als er mittags von seinem Job bei den Städtischen Verkehrsbetrieben nach Hause kam, wo er als Zugabfertiger auf einem wenig benutzten U-Bahnhof in der Vorstadt von der ersten Bahn morgens um vier bis mittags um zwölf Dienst tat. Ursprünglich hatte er ja mal sogar Zugführer werden wollen, aber nachdem er die Prüfung zum dritten Mal geschmissen hatte, war er eines Tages in die Personalabteilung gerufen worden.

‚Suchowsky‘, hatte der P 3 gesagt und ihn dabei gar nicht einmal unfreundlich angesehen, ‚Suchowsky, Sie bringen das doch nicht. Wirklich, damit wir uns nicht falsch verstehen‘, und Suchowsky glaubte, so etwas wie Mitgefühl hinter der randlosen Brille zu entdecken, die dem runden Gesicht des P 3 etwas Respektgebietendes verlieh, ‚wir wollen Ihnen ja keine Steine in den Weg schmeißen, schließlich sind wir keine Unmenschen, im Gegenteil, wenn wir hier für einen was tun können, dann tun wir alles, was in unserer Macht steht, dann setzen wir alle Hebel in Bewegung. Aber bei Ihnen ist das anders, ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Sie sind jetzt schon fast ein Jahr in diesem Lehrgang. Nicht, daß wir hier von jedem Höchstleistungen erwarten, das kann man ja nicht verlangen, aber Sie kennen ja auch die Bestimmungen. Ein halbes Jahr, dann sollte man es eigentlich gebracht haben. Verstehen Sie mich richtig, Mann, ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll...‘.

Der P3 druckste noch einen Moment herum, dann nahm er erneut Anlauf und sagte: ‚Sehen Sie, es fehlt nun mal der Wille, der Berge versetzt, wie man so sagt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag – lassen Sie diese Ausbildung sausen und machen Sie Dienst als Zugabfertiger bei uns. Da haben Sie Ihre Ruhe, da sind Sie nicht dieser dauernden Belastung ausgesetzt, das würde Sie doch sowieso nur fertig machen, Sie sind doch sowieso einer, der ab und zu mal einen ruhigen Moment braucht.‘ Und als er sah, daß Suchowsky zögerte, setzte er hinzu: ‚Mensch, wir meinen es doch wirklich nur gut mit Ihnen.‘

So war Suchowsky auf seinen Bahnhof gekommen, und wenn er ehrlich war, dann war er gar nicht einmal so unglücklich damit. Sicher, er hätte lieber Tag für Tag so einen Zug durch den Tunnel gejagt, an den Hebeln seine Macht probiert, aber was nicht war, das war nun mal nicht. Und so übel hatte er es hier draußen ja auch gar nicht mal getroffen, wenn er manchmal auf den monatlichen Versammlungen der Gewerkschaft von den Kollegen aus der City hörte, was da los war – Penner, Besoffene, Junkies, Rocker, randalierende Touristen. Nein, sagte er sich dann immer, wenn wieder dieses dumpfe Gefühl im Magen zu brennen anfing, es hätte ihn schlimmer erwischen können als hier, in der sogenannten besseren Gegend, wo höchstens mal einer alten Frau der Hund mit dem Schwanz in die automatische Tür kam.

Nein, er war gar nicht so unglücklich, wie er sich manchmal fühlte, und wenn er sich so im ‚Fourty-Zero‘ umsah, wo er abends auf drei Whisky-Cola seine zweite Heimat gefunden hatte, wenn er sich da so umsah: Beneiden tat er die anderen nicht, die er da jeden Abend sah. Klar, die kamen rein mit ihren Bräuten, immer modisch, immer schick, immer aufgekratzt, und die Jungs hatten vor der Tür ihren Turbo quer über den Bürgersteig geparkt, während er sich manchmal über das rausgeschmissene Geld für das Taxi ärgerte.

‚Aber um welchen Preis!‘, hatte Suchowsky mal zu Thimmi gesagt, der ebenfalls jeden Abend allein in der Gegend rumhing, ‚Mann, die sind dafür auch den ganzen Tag auf Achse, ackern rum und machen sich kaputt, um die Knete ranzuschaffen. Glaubst du, eine von den Bräuten würde die auch nur ansehen, wenn die nicht so viel Schütte auf der Naht hätten? Wenn die nur einen Blauen im Monat weniger treffen würden? Nee, tauschen möchte ich mit keinem von denen!‘

Aber dann und wann, und das hatte in der letzten Zeit ein bißchen zugenommen und ihn beunruhigt, dann und wann, da kotzte ihn das doch alles an. Nicht sehr, aber eben doch so – jeden Abend diese Disco, bei drei Whisky-Cola war es manchmal auch nicht mehr geblieben, und dann morgens um vier wieder auf dem Bahnhof zu sein, das hatte ihn bisweilen doch schon ganz schön geschlaucht. Mit den Bräuten lief auch nichts mehr seit damals, als Inge vor zwei Jahren von einem Tag auf den anderen mit ihm Schluß gemacht hatte, und ein paar Mal hatte er blau gemacht, als er morgens mit ziemlich schwerem Kopf auf der Bettkante gesessen hatte. ‚Der Laden läuft auch so‘, hatte er sich gesagt und die beiden ersten schriftlichen Verwarnungen des VO nicht so tragisch genommen.

Und jetzt lag da dieser Brief in seinem Fach, und ob er es wahrhaben wollte oder nicht, etwas zitterten ihm doch die Finger, als er das billige grau-grüne Kuvert aufriß und das formlose Schreiben herausfingerte. ‚...der Unregelmäßigkeiten der letzten Zeit...uns leider gezwungen, Ihr Arbeitsverhältnis fristgerecht...bitten Sie, Ihre Unterlagen...unser Personal-Büro wird selbstverständlich...‘

Feierabend. Suchowsky griff in die Tasche, steckte sich mechanisch eine an und merkte erst am sengenden Geruch, daß er den Filter angezündet hatte. Rausgeschmissen, einfach so, von heute auf morgen. ‚Das hat mir der VO eingebrockt‘, dachte Suchowsky, ‚der konnte mich sowieso noch nie leiden, und jetzt hat er mich beim P in die Pfanne gehauen.‘

Aber nach drei Tagen hatte er sich wieder fest im Griff. ‚Ich geb‘ nicht auf‘, hatte er zu Thimmi gesagt, ‚weißt du, was die mich können? Die können mich am Arsch lecken. Und ich sag‘ dir, was ich mache: Ich hau‘ ab, ich mach‘ ’ne Fliege!‘ Und als er Thimmis skeptisches Gesicht gesehen hatte, hatte er hinzugesetzt: ‚Mann, einen größeren Gefallen konnten die mir doch gar nicht tun. Weg gewollt habe ich schon immer, aber bis jetzt konnte ich ja nicht. Barcelona, Fähre rüber nach Ibi, da war ich vor zwei Jahren mal mit Inge, heiße Insel, jobbst ’ne Woche im Monat in ’ner Kneipe oder so, den Rest der Zeit liegst du auf der faulen Haut, trinkst deinen Whisky-Cola und läßt dir von den Bräuten den Rücken kraulen.‘

Und dann war er wirklich losgefahren, die kannten Suchowsky noch nicht! Für seine Hütte hatte er schnell einen Nachmieter gefunden, Politologe im fünften Semester, der auf dem Schlauch stand und dringend eine Bude brauchte und ihm sogar noch Abstand bezahlt hatte für die paar Sachen und die kleine Anlage, die er vor Jahren mal von Stereo-Wolfgang billig abgestaubt hatte.

‚Schön blöd‘, hatte Suchowsky gedacht, als er den Riesen in der Hand hielt, ‚aber das ist sein Problem. Studiker haben nun mal ’nen Sprung in der Schüssel.‘

Mit dem Schein in der Tasche war er King gewesen. Der Autoverkäufer hatte ihn aufs Kreuz legen wollen. ‚Aber doch nicht mit mir‘, hatte Suchowsky gedacht und auf dem Platz gegenüber den Rekord geholt, Baujahr ’82, Radio, Liegesitze, TÜV noch nicht abgelaufen, 880 bar Kralle. Das war genau das gewesen, was er brauchte – einmal Ibi und nie wieder zurück.

Am Freitag war er losgefahren, und die Fahrt war reibungslos verlaufen: Würzburg, Freiburg, Schweiz, immer gerade Richtung Süden, und als er in Valence wieder Autobahn unter den Reifen hatte, war er richtig high gewesen. ‚Ibi, ich komme‘, hatte er laut gegrölt, weil ihn keiner hören konnte. Der Rekord zog für sein Alter noch ganz beachtlich ab, immer schön Speed 130, das reichte, da konnte er abschlaffen und die Mühle einfach laufen lassen.

Aber kurz hinter Nimes hatte er zum ersten Mal dieses verdammte Gefühl im Hinterkopf wahrgenommen. ‚Ich glaub‘, ich komm‘ ins Grübeln‘, hatte er laut zu sich selbst gesagt, um den Gedanken zu verscheuchen. Aber er war da und ließ sich nicht mehr wegschieben: Inge.

Genau diese Strecke waren sie damals auch gefahren, in Inges Rostlaube, und bei Montpellier war die Scheiße losgegangen. Inge war es in der alten Mühle zu heiß geworden, und so richtig provozierend hatte sie die Bluse fast bis zum Nabel aufgerissen. ‚Mach‘ das zu‘, hatte er zu ihr gesagt, ‚die ganzen geilen Säcke schielen schon rüber beim Überholen.‘ Aber Inge hatte nur gelacht, ihn einfach ausgelacht, und ‚Spießer‘ gesagt.

Inge war ja immer was Besseres gewesen, höhere Handelsschule, ein Jahr England und dann Sekretärin mit zweiacht netto. Das hatte sie immer ausgespielt und sich über ihn lustig gemacht, daß er seine Prinzipien hatte. Bei Beziers war das Maß voll gewesen, mitten in der Fahrt hatte er ihr eine gescheuert, Inge wäre fast auf den Mittelstreifen gekachelt, und dann war sie ohne ein Wort auf den nächsten Parkplatz gefahren und hatte ihn rausgeschmissen. ‚Hau ab, du blödes Schwein‘, hatte sie ihn angebrüllt und ihm seinen Koffer vor die Füße geknallt, ‚ich hab‘ endgültig die Schnauze voll von dir! Verpiß dich!‘

Irgendwann hatte es ja mal so kommen müssen. Inge war nun mal ’ne Ratte, aber daß sie ausgerechnet da den Abgang gemacht hatte, das hatte er ihr dreimal mehr übelgenommen als die Tatsache überhaupt, daß sie ihm den Laufpaß gegeben hatte.

Suchowsky konnte sich nicht helfen – das miese Gefühl wurde immer schlimmer. Mit jedem Kilometer, den er sich weiter durch die sengende Sonne fraß, fühlte er sich beschissener. Zuerst hatte er es ja noch auf Übermüdung und auf die Suppe und den Salat in der Raststätte geschoben. ‚Scheiß französische Küche‘, hatte er gedacht, ‚ich muß durchhalten, in ein paar Stunden bin ich in Barcelona.‘

Aber das Herzrasen war immer stärker geworden, die Schweißausbrüche immer heftiger, und die Bilder von damals ließen seine Augen flattern. Kurz vor Perpignan hatte er das erste Mal gekotzt, mitten in der Stadt das zweite Mal, und jetzt, als er die Serpentinen zwischen Cerbère und Figueras kletterte, war es aus: ‚Versager‘, hämmerte es von innen gegen seine Stirn, ‚mieser kleiner Versager. Jeder andere an deiner Stelle hätte schon längst Schluß gemacht, damit er es wenigstens einmal im Leben bringt.‘

‚Ende‘, murmelte Suchowsky, ‚ich schaff‘s nicht. Leb‘ wohl, Ibi, die nächste Kurve ist meine, einmal im Leben was richtig machen, ab, runter, ein paar Mal auf den Felsen aufhauen und dann ins Wasser. Hoffentlich tut‘s nicht so weh.‘

Er riß das Steuer rum, der Rekord schoß quer über die schmale Straße, brach durch die Leitplanke, flog durch die Luft – und blieb drei Meter tiefer auf einem Vorsprung liegen: Suchowsky hatte übersehen, daß der Berg die 80 Meter nicht gleichmäßig abfiel, sondern in Terrassen.“

Der Alte nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und steckte sich eine neue Zigarette an. Nach ein paar tiefen Zügen fuhr er fort: „Na ja, und da hab‘ ich ihn dann gefunden. Er heulte Rotz und Wasser wie ein kleiner Junge. Er war ja eigentlich auch noch ein Kind. Ich kam gerade aus Barcelona und hatte den Zug voll mit Konserven. Ich hab‘ ihn rausgeholt, sein Wagen war natürlich nur noch Schrott, ein Wunder, daß ihm selbst nichts passiert ist. Als er zu sich kam, hat er erst mal eine ganze Weile nichts gesagt. Nur geheult. Ich hab‘ ihm ’nen Tee aus meiner Thermos-Flasche und zwei kräftige Cognacs eingeflößt, und dann hat er angefangen zu erzählen. Drei Stunden haben wir am Straßenrand gesessen, und er hat gesprochen und gesprochen. Ich glaube, er war froh, daß ihm mal einer zugehört hat. War wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben überhaupt. Und dann habe ich ihn gefragt: ‚Und jetzt? Was willst du jetzt machen?‘

Da hat er nur mit den Schultern gezuckt und wieder losgeheult. Na, um‘s kurz zu machen – ich hab‘ gesagt: ‚Komm‘ erst mal mit, ich fahr‘ nach Hannover, vielleicht habe ich auf dem Hof ’nen Job für dich.‘ So ist er dann hier gelandet.“

Der Alte sah aus dem Fenster hinaus auf den Hof, wo Suchowsky soeben zum fünften Mal versuchte, eine Palette Klinker-Steine mit dem Gabelstapler wenigstens halbwegs gerade auf den 16-Tonner zu hieven.

„Ein dummes Schwein“, sagte der Alte, „aber irgendwie mag ich ihn.“

(1977)

 
 

 

            
 Homepage