Himmel Nr. 6 ½ *

er Henker mochte wissen, welcher Teufel – so es ihn denn überhaupt gibt, denn da ich aufgrund meiner bisherigen Lebenserfahrung die Existenz Gottes, eines „lieben Gottes“ womöglich, zu verneinen gezwungen bin, hat meine Logik Schwierigkeiten, sich die Negation einer nicht vorhandenen Größe vorzustellen – wer oder was also auch immer mochte wissen, wer oder was auch immer mich bewogen haben mochte, an diesem Abend nach langer Zeit einmal wieder ausgerechnet hier einzufallen. Schließlich war die Stadt voll von Etablissements jeglicher Couleur vom Luxus-Puff bis hin zur billigen Porno-Film-Bar, vom durchgestylten Yuppie-Schuppen, wo sie so vornehm sind, daß sie als letzten Schrei Curry an Pommes auf moussiertem und kaltgepreßtem Sauerampfer-Sud reichen, bis hin zur unkaschierten Alk-Kaschemme, in der man sich – um mit Thomas Mann zu reden – ohn‘ Bemäntelung und Gleisnerei aus nur einem einzigen Grund trifft, nämlich sich vollaufen zu lassen, und zwar bitte subito!

Nein, es war kein „Schmetterlinge im Bauch“ und kein „Es ist, was es ist, sagt die Liebe“, kein „Allem Anfang wohnt ein unheimlicher Zauber inne“ oder sonst irgendetwas von dem süßlichen Toscana-Geschwurbel aus den „Zeit“-Bekanntschafts-Anzeigen. Es war, was es war, und zwar ohne alle Liebe, und zusätzlich zum harten Kern der Wochenend-Trinker schien sich nahezu der gesamte Dunstkreis des allabendlichen Trampelpfads des verkommeneren Teils der gesellschaftlichen mittleren Führungsebene unseres aufstrebenden Marktfleckens am Rande der märkischen Heide heute hier verdichtet zu haben: Der grölende Alk-Arzt, der stets einen Tausender für etwaige Kontrollen im Führerschein liegen und mit einem Stuhlbein nach seiner Frau geschmissen hatte, nachdem sie ein einziges Mal nach 20 Jahren Ehe fremdgegangen war, weil sie die Schnauze voll hatte, ihm nachts um drei einen Eimer unterzuhalten, wenn er hackevoll nach Hause kam und den großen Wandspiegel im Schlafzimmer mit den Worten: „Du kotzt mich an!“ bepinkelte. Der Antiquitäten-Händler, der auf öffentlichen Kneipen- wie privaten Partys vorzugsweise mit vollen Bierflaschen nicht nur auf die Plattenspieler zielte, sondern mit schlafwandlerischer Sicherheit auch voll traf, nebst seiner völlig durchgeknallten Freundin, die auf einem Fest im Penthouse eines der reichen Freunde des Alk-Arztes mit ihren Stilettos auf Anhieb knappe sieben Quadratmeter Fensterfläche in eine Milliarde Trümmer zerlegte, als sie ihre Fähigkeiten in Handstand an der Wand demonstrierte. Der sensibel-gescheiterte Galerist, der ohne aufzubegehren hinnahm, daß alle, ausnahmslos alle die vollbusige Braut knallten, die sie ihm ins Bett gelegt hatten, außer ihm selbst. Die Kakao-Großhändler-Erbin, deren mit Weitwinkel aufgenommene Fotos ihres Geschlechts, die im ganzen Zirkel so lange kreisten, bis sie Legende waren, so gestochen scharf waren wie sie selbst. Der schmierige Scheidungs-Anwalt mit dem Radio-Bastler-Bart, der attraktiven Klientinnen bei sexuellem Entgegenkommen 30 Prozent Honorarnachlaß versprach, um hinterher kaltschnäuzig doch die volle Summe einzuklagen. Peitschen-Petra, die sich, nachdem sie der schnauzbärtige Star-Architekt eines Abends zur Fessel-Nummer abgeschleppt, im Suff aber hinterher vergessen hatte, sie wieder loszubinden, am nächsten Morgen noch stöhnend neben ihm wand, ehe sie später beim Insel-Hüpfen in Griechenland mit irgendeinem Iannis, Kostas oder Dimitri das große Glück fand und seither als verschollen gilt. Der renommierte Gynäkologe, der zwischen Vorspeise und Hauptgericht seiner klotztittigen Teenie-Freundin auf dem Damenklo einen Steh-Quickie verpaßte, während seine Alte inmitten ihrer sich auf dem Kneipenboden prügelnden Gören Rotz und Wasser und dicke Blasen in die Suppe flennte, die unbefriedigte Steuerberaterin, die schon feuchtete, wenn man ihr nur in den Mantel half, die Personal-Chefin der Staatlichen Bühnen, die freitags abends von ihrem Freund zum Freundinnen-Treff freibekam und in einer einzigen Nacht nachvögelte, was sie die ganze Woche über entbehrt hatte, der 11-fach „Felix“-nominierte Kameramann, der Bräute schon mit seinem abgelutschten Zigarren-Stummel bearbeitete, als William Jefferson Clinton noch nicht mal Gouverneur von Arkansas war, und und und.

Es gelang mir nur mühsam, mir einen Weg durch die Menge zu bahnen, und nachdem ich – Begrüßungsritual Nr. 1 – kurz mit der haselnußäugigen Judith aus dem Schwarzwald geknutscht hatte, die hier seit 19 Semestern mit Kellnern ihr Arabisch-Studium finanzierte und sich nach Feierabend von jedem Glutauge flachlegen ließ, sofern es nur glaubhaft versichern konnte, mehr als drei Suren aus dem Koran draufzuhaben, und – Begrüßungs-Ritual Nr. 2 – auch Klaudia kurz in den Knack-Arsch gekniffen hatte (Klaudia mit „K“, wie sie betonte, wenn man sie nach ihrem Namen fragte, und die jeden Tag zu Dienstbeginn mit „Man weiß ja nie, was die Nacht noch bringt!“ eine Plastiktüte mit frischer Unterwäsche für nach dem Dienst in der Küche deponierte), sah ich sie. Sie, die – um es einmal und damit auch nie wieder so pathetisch auszudrücken – einzige Frau, die ich – wenn ich denn zu derartigen Gefühlen überhaupt in der Lage bin – je geliebt hatte. Genauer gesagt: Für die ich das empfunden hatte, wovon ich mir vorstellte, daß es das sein muß, was gemeint war, wenn von Liebe die Rede war.

„Mensch, Müller-Lüdenscheid, du hier und nicht in Hollywood?“, sagte sie, als ich endlich vor ihr stand.

„Hörst du? Sie spielen unser Lied“, entgegnete ich, und den sechs oder sieben professionellen Bräute-Zerrern, die sich um sie zusammengezogen hatten wie konzentrische Kreise, war anzusehen, daß sie nicht wußten, ob sie lachen sollten oder nicht. Ich wandte mich an den Rolex-Schniegel, der offensichtlich so etwas wie der Eintänzer der Bagger-Brigade war.

„Ich glaube, es ist besser, ihr geht. Ich hab‘ mit der Dame was zu besprechen.“

„Wer bist denn du Komiker?“, fragte er mich.

„Rudolf, das rotgenaste Rentier mit dem hart scheinenden Zinken“.

Er warf Engelchen einen fragenden Blick zu, und als sie ihm mit einem ihrer berüchtigten „Eiskalt-wie-Sharon-Stone“-Blicke bedeutete, daß sie – zumindest für den Augenblick – das Interesse verloren hatte, trollte er sich mitsamt seiner sabbernden Entourage.

„Na, Engelchen, lange nicht mehr gesehen“, sagte ich, als wir endlich unter uns waren.

„Seit ich dich verlassen habe“, trumpfte sie auf.

„So kann man es nennen, und es hat scheiß-weh getan.“

Ihr linker Mundwinkel zuckte leicht, aber doch unübersehbar. Offenbar gab es bei aller Coolness und aller Abgebrühtheit doch noch eine Ecke in ihr, in der noch nicht die Attitüde das wirkliche Empfinden überlagert hatte.

„Das liegt in der Natur der Sache“, sagte sie schnell und betont leichthin, „aber offensichtlich bist du ja doch nicht an gebrochenem Herzen gestorben.“

„Tut mir leid, daß ich dir den Gefallen nicht tun konnte. Und wie geht es dir?“

„Hervorragend! Das siehst du doch!“

„Ja“, sagte ich und stellte fest, wie die 8 Monate, 22 Tage und 16 Stunden Hölle, die seither vergangen waren, auf die Länge des Flügelschlags einer Eintagsfliege zusammenschnurrten, „das ist der Vorteil von Spatzenhirnen: Eine gute Flasche Wein und ein paar schmierige Typen, die ihnen ans Höschen wollen, und schon dreht sich die Sonne um die Erde“.

„Paß‘ mal auf, Herr Arschloch – am besten, du verpißt dich gleich wieder, wenn du glaubst, du kannst hier einfach reinkommen und mich beleidigen!“

„Zum Kuscheln bin ich nicht mehr nüchtern genug.“

„Dazu gehören auch immer Zwei!“

„Ach wo, das kann man auch zu mehreren. Noch nie was vom flotten Sechser gehört?“

Sie mußte lachen, und ich wußte, daß sie sich ärgerte, daß sie lachen mußte. Dann sagte sie:

„Du hast dich nicht verändert – du hast eben nie richtig streiten gelernt“.

„Das ist mein Problem, daß ich – im Gegensatz zu dir – lieber aufbaue statt zu zertrümmern.“

„Du hast mich schon wieder beleidigt“.

„Die Natur geht eben doch seltsame Wege....“.

„Hä?“

„Nun ja, ist es nicht sonderbar, daß immer die, die am meisten keilen, selbst am wenigsten einstecken können?“

„Das reicht! Drei Beleidigungen in anderthalb Minuten, das muß ich nicht haben!“

„Ach nein?“

„Nein!“

„Und du? Hast du mich nicht beleidigt?“

„Ich wüßte nicht, wie.“

„Vielleicht dadurch, daß du mich sitzengelassen hast wie einen Oberprimaner beim Abtanzball, vielleicht dadurch, daß du mich behandelt hast wie ein Stück Dreck“.

„Ehre, wem Ehre gebührt!“

„Mind your words, Lady“, sagte ich, „ich hasse es, Frauen zu schlagen!“

„Vorsicht, ich haue zurück, das solltest du noch wissen“, sagte sie und sang halblaut vor sich hin: „Ich glaub‘, es geht schon wieder los...“

Wir gönnten uns eine kurze Verschnaufpause, die ich nutzte, für mich die Frage auszuformulieren, die vom ersten Moment an in meinem Kopf Achterbahn gefahren war: Was eigentlich wollte sie hier? Was für mich galt, galt für sie schließlich nicht minder – es gab eine halbe Million anderer Kaschemmen in der Stadt als ausgerechnet das „Cat’s Corner“, in dem wir uns kennengelernt hatten und das uns als so etwas wie zweites, wenn bisweilen nicht sogar erstes Wohnzimmer gedient hatte in der Zeit dessen, was der common sense vermutlich als „Beziehung“ bezeichnete, ich für mich hingegen von Anfang an als „liaison dangereuse“ empfunden hatte. Was zur Hölle wollte sie hier? Mich treffen womöglich? Ich konnte es mir nicht vorstellen und wußte zudem, daß Fragen sinnlos wäre: Selbst wenn es so gewesen wäre, so hätte ihr unbändiger Stolz schon ihr selbst verboten, es sich einzugestehen, geschweige denn mir.

„Und wie geht es dir?“, hob sie nach einer Weile wieder an.

„Was glaubst du, wie es mir geht?“, fragte ich.

„Was weiß ich – und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Eigentlich geht es mir auch so was von am Arsch vorbei, das glaubst du gar nicht!“

Das war mein Engelchen live, vor dem ich schon vom ersten Augenblick an weggeschmolzen war wie Vollmilchschokolade in der Wüstensonne: zärtlich, anschmiegsam und von einer liebevollen Hingabe, die nicht von dieser Welt zu sein schien.

„Gibt‘s eigentlich irgendwas auf der Welt, was dir nicht am Arsch vorbeigeht?“, fragte ich. Statt einer Antwort zuckte sie nur herablassend mit den Schultern.

„Warum bist du gegangen?“

„Es ging nicht anders“, sagte sie demonstrativ obenhin, kramte ein Tempo aus der Tasche und räumte erst mal genüßlich die Nebenhöhlen aus, „und ich kann nachdenken, wie ich will – ich finde einfach keinen überzeugenden Grund, es zu bedauern“.

„Schade. Wenn du nicht gerade meinen teuersten Schlips benutzt hast, um das Waschbecken abzudichten, wenn du nicht gerade meine Bildbände genommen hast, wenn kein Topfuntersetzer zur Hand war, wenn du nicht gerade auf mich losgegangen bist, wenn dein Erdnuckel dich genervt hat, und wenn du nicht gerade mir das Leben zur Hölle gemacht hast, weil du mit deinem nicht zurande gekommen bist, dann war es sooo schlecht ja nun auch wieder nicht.“

„Well, it was good while it lasted“, äffte sie und drehte sich zum Tresen: „Renzo, ich brauch‘ noch so ’nen Chardonnay!“

Sie trank hastig, eine Spur zu hastig.

„Nicht, daß du mich verlassen hast, hat mich zerfetzt, sondern wie du es gemacht hast“, sagte ich.

„Und wie, bitteschön, hätte ich es deiner Meinung nach machen sollen?“

„Anstatt klammheimlich über Nacht den Samsonite zu packen, hättest du mir wenigstens sagen können, warum!“

„Ich hatte die Schnauze voll“.

„Das is‘ ’n Argument“.

„Und außerdem: Warum hätte ich was sagen sollen – du hast ja auch nie das Maul aufgekriegt, du und dein Schneckenhaus!“

„Aus dem Sturm des Lebens habe ich für mich nur einige Ideen gerettet, und nicht ein einziges Gefühl“, zitierte ich Lermontow.

„Laber, laber, laber!“

„Du bringst es auf den Punkt....“

„Natürlich bringe ich es auf den Punkt!“

„...von dem ich schon lange die Schnauze voll hatte: Daß es für dich nicht mehr hat als die Qualität von Gelaber, wenn jemand sein Leben mit Arbeit und Gedanken in den Griff bekommt, wenn jemand Maximen und Prinzipien höher stellt als das Hecheln nach dem letzten Thrill! Genau das war unser Problem – daß unsere Sicht der Welt einander so diametral entgegengesetzt ist wie Feuer und Wasser und Erde und Luft!“

„Geil! Der Herr verstehen noch immer, sich auszudrücken“, sagte sie schnippisch.

„Ich kann es dir auch anders sagen: Was mich kränker gemacht hat, als sich dein ewig zugedröhntes Hirn wahrscheinlich jemals wird vorstellen können, ist dein völliges Desinteresse an allem, was über die nächste Flasche und den nächsten Fick hinausgeht!“

„Scheiße!“, rief sie aus, ballte die linke ihrer wunderschönen Hände zur Faust und hieb auf den Tresen, daß im Umkreis von zwei Metern die Gläser schepperten und die Aschenbecher hochsprangen, „Scheiße! Immer noch besser als immer nur Kino und Konzert, Ausstellungen, Bücher und Theater! Das ist nicht das Leben! Jedenfalls nicht das wahre Leben!“

„Kann schon sein, aber es macht das Leben ein bißchen erträglicher, ein bißchen schöner.“

„Blödsinn! Das Leben ist schön!“

„Ach ja? Und warum säufst du dann, wenn es ein einziges Festival der Freuden ist?“

Es war die volle Zwölf, und irgendwo klingelte ein zwar nur für uns beide vernehmbares, dafür jedoch um so lauteres „Bingo!“ durch den lärmgeschwängerten und verrauchten Raum. Wir stierten uns an, irgendwo angesiedelt zwischen Alceste und Celimène, Rick und Ilsa und Kermit und Piggy bei der Stellprobe. Irgendwas war, ich wußte nur noch nicht, was. Wobei das Bild, das ich vor Augen hatte, auch nicht gerade die beste Voraussetzung bot, einen klaren Gedanken zu fassen – unter dem instinktsicher ausgesuchten, leger fließenden Seidenkleid, das ihren warmen und weichen Körper eher erahnen ließ als ihn zu betonen – ich mußte unwillkürlich an den Maler denken, der sein Leben lang nur Nonnen malte und auf die Frage nach dem „Warum“ antwortete: „Gibt es etwas Erotischeres als eine Nonne, von der man 10 Prozent sieht und die restlichen 90 Prozent der Phantasie überlassen bleiben?“ – unter ihrem mit Bedacht ausgewählten Antörn-Outfit wiegten sich ihre vollen Brüste, von denen ich wußte, wie fest sie waren, wie zwei Birnen im Sommerwind. Die leichte Drehung ihres Oberkörpers ließ das weit auseinandergezogene „S“ ihrer Wirbelsäule so anmutig heraustreten, daß Ingres‘ „Odaliske“ dagegen wirkte wie eine Anfänger-Arbeit für den Amateur-Salon. Ihre weichen Flanken, über die ich so oft gestrichen wie ich sie zerkratzt hatte, spannten, wenn sie einatmete, von innen gegen den raschelnden Stoff, ihr atemberaubender Hintern ließ auf dem gepolsterten Barhocker raffinierterweise nur den Kerben-Ansatz erkennen, die schwarzen Nylons, die die wollüstige Seide Maupassants assoziierten und deren Ansatz ihr über dem linken Bein nach oben gerutschter Saum für ein paar Millimeter freigab, schimmerten in der runtergedimmten Beleuchtung noch aufreizender, und es zeichnete sie aus, daß sie im bewußten Gegensatz zum Mode-Trend nicht auf Unterwäsche verzichtet hatte, weil sie genau um die Wirkung sich sanft durchdrückender BH-Träger und der „dsSL“, wie Woody Allen sie einmal genannt hatte, der „deutlich sichtbaren Slip-Linie“ wußte. Und daß sie ihre sinnenverwirrenden schwarzen Schimmer-Strümpfe nicht mit Strapsen festgezurrt, sondern solche ausgesucht hatte, die sich mit einem breiten Abschluß aus Spitze selbst trugen, zeigte, daß sie im Gegensatz zu ihrer Apathie gegenüber den Anforderungen des bürgerlichen täglichen Lebens in Fragen der Selbstdarstellung durchaus auf der Höhe der Zeit war.

Ich hätte sie mit den Augen auffressen können, und sie wußte es. „Na“, fragte sie, als sie ihren dritten Chardonnay bekommen hatte, „steht er?“

„Weiß‘ nicht, hab‘ noch nicht nachgesehen“.

„Dann vergiß‘ es nicht, wenn du zu Hause bist!“

„Du könntest mich nach Hause fahren“, sagte ich.

„Du tickst doch wohl nicht sauber?“, brauste sie auf, und auf ihrem Gesicht fuhren die gegensätzlichsten Gefühle Karussell, bevor sie sich mir voll zuwandte, mich fest ansah und leise mehr zu sich als zu mir sagte: „Warum eigentlich nicht?....Ich weiß ja sowieso nicht, wo ich hingehöre“.

Ihre Einsicht überraschte mich. Es war ein Zug, den ich noch nicht an ihr kannte. Irgend etwas mußte passiert sein seither, doch bevor ich noch Zeit gehabt hätte, darüber nachzudenken, was oder auch wer es hätte gewesen sein können, sagte sie: „Dann los, ehe ich es mir anders überlege!“

„Kann mir mal jemand sagen, was ich hier mache?“, fragte sie mehr ein imaginäres Publikum (das sie allerdings stets mit sich herumschleppte) als sich oder mich, nachdem wir uns gegenseitig die Treppe hochgeschleppt hatten – noch nie zuvor war mir meine erste Etage so hoch vorgekommen –, und sah mich über meinen Eßtisch hinweg mit einem Blick an, der mindestens so schief war wie der Mund von Ellen Barkin, „da verlasse ich den Arsch mit Pauken und Trompeten, weil er mir auf den Senkel geht und mich zu Tode langweilt, und kaum ein Dreivierteljahr später sitze ich schon wieder in dieser Bude, in dieser gepflegten Grabkammer des guten Geschmacks mit ihren Jazz-Plakaten, ihren Bücher-Regalen und ihren Möbeln, in denen sich die Holzwürmer zu Tode vögeln!“

Ich mußte lachen.

„Du siehst aus, als würde dir gleich das Essen aus dem Gesicht fallen!“, höhnte sie.

„Mir fällt gleich noch ganz was anderes raus!“

„Dann paß‘ aber auf, daß du dir nicht die Finger brichst, wenn du die Hose aufmachst“, lief sie zur Top-Form auf. Denn wenn es etwas im Leben gab, das ihr noch originären und ungefilterten Spaß bereitete, so war es das Vergnügen, sich auf Kosten wessen auch immer die eigene Überlegenheit unter Beweis zu stellen.

Ich wußte, daß ich mich schon wieder auf jenem dünnen Eis bewegte, das ältere Romane mit „es war um ihn geschehen“ zu umschreiben pflegten. „Wer jemals Deine Schönheit sah,/ dem bleibt sie tief im Herzen/ fest eingebrannt auf alle Zeit,/ der Glanz von tausend Kerzen:/ Er reicht nicht an das Strahlen ran,/ das du vermagst zu geben;/ Du schöne Frau, so sag‘ mir doch:/ Wann trittst du in mein Leben?“, improvisierte ich beiläufig.

„Puh!“, preßte sie Luft aus breit geblähten Backen durch die Lippen, „du meinst nicht etwa mich?“

„Wenn ich mir hier so umsehe, wüßte ich nicht, wen ich sonst meinen könnte“.

Auch, wenn sie es sich nie eingestanden hätte: Ich sah, wie ihre Augen schimmerten, in erster Linie freilich nicht vor Rührung, Liebe gar – außer ihr selbst gab es sonst nur noch vergleichsweise wenig, das sie liebte, geschweige denn jemanden, den sie liebte –, sondern aus rein selbstverliebtem Wohlbehagen. Und da es für sie nichts Unerträglicheres gab, als bei so etwas Dussligem wie Gefühlen ertappt zu werden, sagte sie schnell:

„Was spricht er, Herr Dichter?“

„Laß‘ uns schlafen gehen“, sagte ich, als sei es in unserer Situation das Selbstverständlichste der Welt, „ich glaube nicht, daß wir uns heute abend noch irgendwas zu sagen haben, das nennenswert über das Niveau einer sauerländischen Zwergschule hinausgeht“.

„Okay“, sagte sie, „wahrscheinlich würde ich es sowieso nicht mehr die Treppe wieder runter schaffen. Aber......der Schlüpper bleibt oben!“, fügte sie hinzu, wobei sie und ich gleichermaßen wußten, daß sie ihren Vorsatz keine 17 Sekunden durchhalten würde, wenn wir erst einmal ein Zimmer weiter wären. Denn so war sie nun mal, und so hatte ich sie in Erinnerung – egal, ob zu bis zur Halskrause mit minderwertigem Stoff aus dem Zwischendeck des Bahnhofs Zoo oder hochkarätigem Schimmel-Afghanen, egal, ob hackevoll von billigem Aldi-Klarem oder einem Jahrgangs-Heidsieck aus dem Geheimkeller des letzten deutschen Kaisers: Wer auch immer sie geschaffen hatte, er hatte sie mit einer derart überbordenden Libido ausgestattet auf die Welt losgelassen, daß bei auch nur der vagesten Aussicht auf eine stramme Nacht sämtliche anderen Probleme und Befindlichkeiten auf der Liste ihrer Prioritäten auf die Ränge 28 bis 53 absackten und sie, sah man sie als potentieller Matratzen-Teiler, besser gesagt: sah sie einen als potenziellen Matratzen-Teiler an, sie mit feuchtem Slip sofort so breitbeinig lief wie eine Zirkusreiterin, eine zweite Felicity Shickfick, deren Motto „Ein guter Fick ist immer schick“ sie, ohne es zu kennen, auf Anhieb unterschrieben hätte, ein Thälmann-Pionier der undomestizierten Triebhaftigkeit, der jedwedem auch nur angedeuteten „Seid bereit!“ mit verhangenen Augen ein ebenso unausgesprochenes wie eindeutiges „Immer bereit!“ entgegenschleuderte.

„Hände hinter‘n Kopp!“, befahl sie, als ich mich aufs Bett fallen ließ, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete und die nahelegte, daß sie mir im nächsten Augenblick meine Rechte vorlesen würde, „wenn du dich auch nur einmal anfaßt, ehe ich bei dir bin, gibt‘s ein volles Pfund auf die Nuß!“

Sie zog sich nicht einfach aus, sondern pellte sich mit der lasziv-aufreizenden Eleganz einer professionellen Stripperin, was sie, nebenbei bemerkt, auch schon gemacht hatte, als sie – eigentlich eher der Regel- als der Ausnahmefall – wieder einmal nicht mehr wußte, wovon sie am nächsten Tag die beiden Scheiben Weißbrot bezahlen sollte, die sie zum Überleben brauchte. Wobei es ebenso für sie sprach, daß sie dann von dem so verdienten Geld natürlich nicht die beiden Scheiben Weißbrot, sondern für ihr Muckelchen das süßeste Sommerkleidchen kaufte, das sie im angesagtesten Kiddy-Shop der ganzen Stadt auftreiben konnte, wie es bezeichnend war für ihre so zügellose wie unersättliche Lebensgier, daß sie sich vom Rest ein sündhaft teures Nichts von Spitzen-Bustier um ihre anbetungswürdige Brust hängte. Denn auch, wenn sie sich mittlerweile fast nur noch auf die Auswahl ihrer Unterwäsche beschränkten, so hatten sich in irgendeiner Ecke ihrer kaputten Schiffbruch-Seele doch noch ein paar Rudimente der einstigen Tochter aus gutem Hause erhalten (wobei sie sich in ihren wenigen lichten Momenten, wenn sie ausnahmsweise einmal gerade nicht mit einem ihrer zahllosen Exzesse beschäftigt war, ihrer inneren Zerrissenheit und Ambivalenz durchaus bewußt war). Und um zu erfahren, daß ein Mann schon ziemlich fertig mit der Welt sein mußte, führe er nicht auf die ihr eigene Kombination von knackender Spitze und knackigem Körper ab, hatte sie nicht erst einen Kurs an der Volkshochschule belegen müssen.

Mit aufreizend-quälender Gemächlichkeit zippte sie denn den schier endlos scheinenden Reißverschluß millimeterweise vom dritten Wirbel ihres Schwanenhalses herunter bis zu den Ansätzen ihrer strotzenden Hinterbacken und ließ anschließend – selbst drei Millimeter vor dem klinischen Tatbestand des Deliriums verfügte sie noch intuitiv über das komplette Instrumentarium dessen, wie man nicht nur anmacht, sondern jenseits respektive bereits vor jeder direkten körperlichen Berührung zur Raserei bringt – das knisternde Seidenteil kalkuliert nur soweit herunter rutschen, daß es seine Abwärtsfahrt auf den Hochalpen kurz unterhalb ihrer Schultern schon wieder abbremste. Als das Kleid – nach Jahrhunderten, wie mir schien, und wie ein Fallschirm nach einem gewagten Luftlande-Manöver – endlich auf dem Boden zu einem sich bauschenden Häuflein Anmut in sich zusammengefallen war, griff sie mit beiden Händen hinter ihren Rücken und zuppelte mit sichtlichem Vergnügen derart umständlich am Verschluß ihres nachtschwarzen BHs aus Brüsseler Klöppelkunst herum (der im Übrigen ihre hinreißenden Lara-Croft-Kullern nicht gewaltsam herauspreßte, sondern sie nur noch etwas nuancierter als die Vulkane auswies, die sie waren), daß ich versucht war, Mike Krügers „Da mußte nur die Nippel durch die Lasche zieh‘n“ eine ganze Reihe von Jahren nach seiner Entstehung eine völlig neue Dimension der Interpretation zu erschließen.

„Na, Schatzi, ’n bißchen mitkommen, geile Sachen machen?“, parodierte sie die Mädels von der Straßen-Front, als ihre Monster, bar jeglichen Hemm- wie Hindernisses, so stolz in die Welt schauten wie jemand, der soeben bei „Rudis Reste Rampe“ das Schnäppchen seines Lebens gemacht hat, wackelte sich – aller guten „Der Schlüpper bleibt oben!“-Vorsätze schon längst nicht mehr eingedenk – ihren durchbrochenen Triangel-Tanga auf die Knöchel, rollte schleppend erst den rechten und dann den linken Hauch von Kunstfaser über Knie und Knöchel zu Boden und schob sich mir schließlich direkt vors Gesicht.

Es war offensichtlich, daß ihr Table-Dance ohne Stange sie selbst erregt hatte. „Na, was sags‘te?“, fragte sie mit vor Stolz zitternder Stimme, als sie sich neben mir niederließ.

„Wenn‘s irgendwie einzurichten ist, wär‘s schon schön, wenn du mir die Bettwäsche nicht mehr als unbedingt nötig versaust“, antwortete ich angesichts des vollen Glases in ihrer Hand und ihrer Zigarettenglut, zwischen die und mein Kopfkissen allenfalls noch eine Seite der Dünndruckausgabe von Baudelaires „Blumen des Bösen“ gepaßt hätte.

„Du wirst ja wohl noch ’ne zweite Garnitur haben!“, schnauzte sie zurück, besann sich aber angesichts meiner nicht zu übersehenden Erregung eines Besseren.

„Ach, Müller-Lüdenscheid“, sagte sie mit glasig-lüsternem Blick, „mit dir könnte ich die ganze Nacht durchvögeln!“

„Warum machst du‘s dann nicht?“

„Das hätts‘te nich‘ sagen sollen!“, entgegnete sie, fuhr wie der Blitz an, auf und über mich und brachte mich auf Touren.

„Boooah ey, wat‘n Steifen!“, ahmte sie irgendeinen niederrheinischen Prolls-Komiker nach, als mein alter ego so steil in Richtung Himmel ragte wie ein Fahnenmast am Tag der Deutschen Einheit, und nachdem sie für ein paar Augenblicke vor lauter Begeisterung über das eigene komödiantische Talent Schwierigkeiten hatte, sich vor kicherndem Gegluckse wieder zu beruhigen, rutschte sie auf mich, zog die Beine an und schob sich in Stellung.

„Na, dann woll‘n wa‘ mal!“ sagte sie mit prononciert nüchterner Rotzigkeit, senkte sich ab und ritt mit einer Grandezza, daß auf jeder Military die Konkurrenz allein bei ihrem Anblick freiwillig das Feld geräumt hätte, bis sie mit einem schrillen Schrei explodierte, der mich um mein in langen Jahren gewachsenes harmonisches Verhältnis zu meinen Nachbarn fürchten ließ und den man in Ulan-Bator, als er endlich angekommen war, vermutlich für das Vorgrummeln des nächsten Erdbebens hielt.

„Nicht schlecht, Herr Specht“, keuchte sie, mehr begeistert von sich denn von allem anderen, als sie sich voll, satt und träge von mir abrollen ließ, „ich hab‘ dich ganz schön alle gemacht, hä?“

„Jeder macht, was er am besten kann“, erwiderte ich, doch ehe es Zoff geben konnte, war sie schon mit einem anderen gravierenden Problem beschäftigt:

„Ich muß mal pinkeln“, krähte sie, kultiviert bis zur Selbstaufgabe, sprang – soweit man in ihrem Zustand überhaupt noch von springen reden konnte – aus dem Bett und wäre um ein Haar voll auf die Schnauze gefallen, weil sie – logo – mitten auf dem Beistelltisch landete, der mir als Nachttisch diente und dessen Kleinholz nun mit den dort abgelegten Zeitungen, Lamartines „Méditations“, Koestlers „Sonnenfinsteris“ und „Pooh‘s Corner, Band 2“, dem Aschenbecher, den Zigaretten und den Scherben unserer beiden Gläser einen nachgerade idyllischen Trümmerhaufen bildete.

„Scheiß-Laden“, belferte sie und wankte tapfer weiter, „überall steht hier was rum! Da bricht man sich ja glatt die Gräten!“

An der Tür angekommen, machte sie Halt, denn mein schmaler, hoher Spiegel übte auf Egozentriker jeglicher couleur offensichtlich eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, und während sich meine Augen förmlich festsaugten an der klassisch geschwungenen Linie ihres Rückens, den sich daran anschließenden Kostbarkeiten und ihren Elfenbein-Beinen, die nur unwesentlich länger waren als die Flügel-Spannweite eines Jumbos, hatte Narcissa offensichtlich Schwierigkeiten, nicht in das Glas hinein zu kriechen.

„Eigentlich bin ich wirklich ’ne schöne Frau!“, stellte sie selbstzufrieden fest und knurrte drohend in mein Schweigen hinein: „Oder?!“

„’türlich, wenn man mal von der einsetzenden Zellulitis am Arsch absieht...“

Sie schoß herum, um sich von der Rückseite in Augenschein zu nehmen, und diesmal schaffte sie es ohne Anlauf und ohne Probe: Sie knallte der Länge nach hin und fegte – sozusagen als Zugabe – auch noch die Meißner Porzellan-Chinesin, die mich ein paar Monate zuvor ein fünfminütiges Bietergefecht und einen kleineren Stapel von Scheinen mit dem Bild von Clara Schumann, geb. Wieck, gekostet hatte, von der Konsole in tausend Stücke.

„Geh‘ pinkeln, ehe du noch mehr Unheil anrichtest“, sagte ich, nachdem sie sich benommen wieder vom Teppichboden aufgerappelt hatte und schüttelte wie eine Katze, die beim Sonntags-Spaziergang über die Dächer aus dem dritten Stock gefallen war.

Mit tapsigen Schritten kam sie nach einer Weile wieder, und wer gesehen hätte, mit welcher Anmut sie zurück an meine Seite kroch, hätte auch ohne jegliche Sprachkenntnisse sofort verstanden, warum „gleiten“ auf Französisch so anschaulich schön „glisser“ heißt. Ich rollte sie mir ohne Gegenwehr in den Arm, und für ein paar Minuten war sie nicht mehr das reißende Raubtier, nicht mehr der zerstörerische Dämon, der sie war, sondern der schnurrende Pittiplatsch, als den ich sie geliebt hatte und dem erneut mit jeder Faser meines Herzens zu verfallen ich soeben im Begriff war. Aber eben nur für ein paar Minuten:

„Gibt‘s hier eigentlich keine Musik mehr?“, blubberte sie urplötzlich los und reckte ihre immer noch harten Nippel angriffslustig in die Luft.

„’nen anderen Ton, bitte, sonst gibt‘s was zwischen die Hörner!“

„Zwischen die Beine würd‘ mir schon reichen!“

„Was dürft‘s denn sein?“, besänftigte ich Lady Kodderschnauze.

„Weiß‘ nich‘, was Lebendiges! Auf jeden Fall keinen Satie, keine Streichquartette, keinen Jazz und auch nicht ‚La Travolta‘!“

„Traviata“, sagte ich, blätterte im CD-Ständer die Abteilung „Internationale Unterhaltung“ durch und schob „The Dance Decade, Vol. 3“ in den Player.

Hingerissen bumsten wir uns in der zweiten Runde quer durch die glorreichen 70er, durch Lou Rawls und George McCrea, „Lady Bump“, „Shame, Shame, Shame“ und „That‘s The Way I Like It“, bis wir erschöpft auseinander rollten. Vermutlich täuschte ich mich, aber für den Bruchteil einer Sekunde schien es mir, als entdeckte ich in ihren harten Augen einen – post coitum animal triste – kaum wahrnehmbaren Hauch von Zärtlichkeit. Die Zeit war reif für die Frage, die mir auf den Nägeln so brannte wie auf den Lippen, seit ich sie und ihre glänzenden Nylons das erste Mal wiedergesehen hatte nach den langen Monaten der Finsternis, was de facto man gerade eben erst ein paar Stunden her war, sich vor meinem inneren Erleben jedoch schon ausnahm, als sei es bereits die nächste Ewigkeit.

„Was ist? Bleiben wir zusammen?“, fragte ich.

„Hm....weiß‘ nich‘...meinst du denn, du hältst mich noch mal aus?“

L‘ homme est un apprenti, la douleur est son maître“, überließ ich de Musset die Antwort.

„Oh Mann, nich‘ schon wieder sowas....Was heißt ’n das?“

„Der Mensch is‘ ’n Azubi, sein Lehrmeister der Schmerz“.

„Meinethalben....Und ich muß nicht mehr als einmal im Monat mit ins Konzert?“

„Nein.“

„Und du wirst immer lieb sein zu meinem kleinen Muckel?“

„Ja.“

„Und wenn du versuchst, mich zu ändern, dann so, daß ich‘s nicht merke?“

„Ja.“

„Dann laß‘ uns sehen, wie lange es diesmal gut geht“, sagte sie.

„Besiegeln wir‘s“, sagte ich und rollte mich wieder in Stellung.

„Besiegeln wir‘s“, sagte sie und spreizte die Schenkel zum Winkel.

(1999)

   

 

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