As time goes by
![]() ome broken hearts never mend, sang die angerauhte Stimme aus dem Radio. Harry Morgan saß, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, auf dem Fußboden. Die Beine hatte er angezogen, und mit den Armen umfaßte er die Knie. Es war der einzige vernünftige Satz gewesen, den er in dem ganzen Buch gefunden hatte, und deswegen ließ er ihn auch nicht los: Bei sensiblen und feingearteten Temperamenten ist das immer so, hieß das Resümee nach Dorians Zusammenbruch, ihre starken Leidenschaften müssen sich biegen oder brechen. Entweder erschlagen sie den Menschen, oder sie sterben selbst. Morgan wußte nur zu gut, warum ihm ausgerechnet dieses Zitat plötzlich und mit aller Macht im Kopf herumging: Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt, von hinten überfallen, und er war ihr ausgeliefert, so wehr- und hilflos wie ein Strafgefangener der Willkür seiner Wärter. |
Er hörte noch ihre Stimme, damals. Wenn es sein muß, dann geh‘ ich mit dir sogar in den letzten Negerkral, hatte sie irgendwann in den ersten zärtlichen Wochen gesagt, als er ihr von seinen Plänen erzählt hatte. Ich glaube, ja, hatte sie mit schimmernden Augen geantwortet, als er gefragt hatte, ob sie es länger mit ihm aushalten könnte, und dieses Ja hatte ihn so hoch gehoben, daß er bisweilen geglaubt hatte, die Sterne berühren zu können. |
Sicher: Die Sterne, die berührt man nicht, man freut sich ihrer Pracht war ihm zwar ebenso geläufig gewesen wie das warnende Beispiel irgendeines Griechen, dem die Flügel weggesengt waren, als er der Sonne zu nahe kam, aber wer glaubt schon, Mythen, Sagen und Legenden hätten was mit dem eigenen Leben zu tun, wenn dieses Leben soeben mit Mach 2 abzuheben sich anschickt? Der Absturz war logischerweise um so heftiger gewesen – so aus dem Nichts, wie sie gekommen war, war sie plötzlich auch wieder gegangen, hatte ihn verlassen, von einem Tag auf den anderen, ohne ein Wort, ohne eine Erklärung, irgendwohin unbekannt verzogen, wie es im nüchternen Post-Deutsch heißt. Wochenlang, monatelang war er Nacht für Nacht allein im Wagen durch die große Stadt gefahren, vom äußersten Norden in den südlichsten Zipfel, hatte geschrien in der dunklen Einsamkeit, wenn er geglaubt hatte, es nicht mehr aushalten zu können; monatelang waren seine Handflächen von Narben übersät gewesen, weil er immer und immer wieder die Nägel hineingegraben hatte in dem sinnlosen Versuch, den fremden Schmerz durch selbst zugefügten abzutöten; die Trommelfelle waren ihm fast geplatzt, wenn er unter seine Kopfhörer gekrochen war und versucht hatte, sich mit Lautstärke zu betäuben, und hätte er zu jener Zeit einen Arzt aufgesucht – selbst neurologische Erstsemester hätten ohne Untersuchung, allein auf den ersten Augenschein hin, unabweisbare Anzeichen von Wahnsinn diagnostiziert. |
Freilich: Irgendwann schließlich hatte, der menschlichen Natur folgend, der aktuelle Schmerz doch nachgelassen, aber er war nicht weg, hatte sich im Gegenteil nach innen verlagert, in tiefere Schichten zurückgezogen, von wo aus er noch mehr Macht gewonnen hatte als zuvor. Der Volksmund, der immer alles weiß und stets noch alles besser weiß, hätte, hätte er je hingehört, ihn vermutlich mit dem wohlfeilen Begriff Zyniker belegt, mit dem Inbegriff dessen, der an nichts mehr glaubt, es sei denn, den eigenen Vorteil, und Morgan hätte jenem Volksmund auch allen Anlaß geboten: Jahre der Hemmungslosigkeit waren es gewesen, des Genusses unter Zwang, der Jagd nach dem austauschbaren Rausch, dem sinnentleerten Thrill. |
Selbst, wenn er es gewollt hätte – die Bilderflut vor seinem inneren Auge ließ sich nicht mehr abweisen: In Maßen respektabler Bürger nach außen, hatte er sich in seinen Beruf gestürzt, so etwas wie Karriere gemacht und die Bewunderung derer ausgekostet, die er insgeheim verachtete. Von Hause aus eher introvertiert und zurückhaltend, hatte er sich doch in die Macho-Clique eingegliedert, die sich Abend für Abend in einer der In-Kneipen besoff, um dann irgendwann und irgendwo unter Krawall und Krakeelen die Sau rauszulassen. Ursprünglich dem schrillen Schein so abgeneigt wie Nosferatu der strahlenden Mittagssonne, hatte es ihn doch high gemacht, sich in den unterschiedlichsten Discos die Absätze von den Stiefeln zu tanzen, angetörnt, wenn sie beim Griechen Teller und Gläser auf dem Boden zerschmissen und so lange Sirtaki tanzten, bis sie in den Scherben zusammenbrachen. Die stets zu Orgien ausartenden Feste, bei denen Alkohol und Shit nie ausgingen, Hausmanns Geburtstags-Fete, bei der er fast im Swimming-Pool ersoffen wäre, während er nach Lindas Höschen tauchte, das sie jetzt dringendst wieder brauchte, damit ihr Mann nichts merkte. Der Abend, als sie zu viert in die abgefahrenste Türken-Kneipe einfielen, Kristina mit ihrer Traumfigur und den lasziven Bauchtänzen die Männer fast zur Raserei brachte und sie ihre Mühe und Not hatten, eine handfeste Messerstecherei im letzten Augenblick abzubiegen, und er selbst nebenbei so hacke gewesen war, daß er nicht einmal mehr merkte, wie sie ihm die Stiefel auszogen und ins Gläser-Spülbecken stellten. Die endlosen Züge auf dem Trampelpfad, wenn sie mit Sektkübeln und Flaschen um sich warfen wie andere Leute sonst nur zu Fasching mit Konfetti, das Silvester-Bacchanal, bei dem sie eine ganze Kneipe bis auf den letzten Stuhl und das letzte Glas in Schutt und Asche legten, und die nachgerade orgiastischen Nächte, in denen sie immer wieder It‘s now or never und Buona sera, Blue suede shoes und Be-bop-a-lula, she‘s my baby, be-bop-a-lula, that‘s no maybe nach der Music-Box so lange mitgrölten, bis sie heiser für gleich drei Tage waren. |
Jahre der Exzesse, der Äußerlichkeiten, der – und das Schlimmste war: er wußte es in jedem Augenblick so deutlich wie sein Geburtsdatum – hilflos-ohnmächtigen Versuche, das innere Schreien zu überschreien, Jahre der gefühllosen One-Night-Stands auch, des Abends aufgerissen, morgens rausgeschmissen: die Stunden-Nummer mit der Jugoslawin unter den Augen der Clique im berüchtigsten Puff der Stadt; der Quickie mit der Krankenschwester-Schülerin auf dem Damen-Klo der Teenie-Disco; die Boutiquen-Besitzerin, die Asthma-Tropfen mitgebracht hatte, um die Lust zu steigern; die Ex-MTA und jetzige Arzt-Frau, die zwar eine gute Partie gemacht hatte, aber ihn dann und wann doch brauchte, um bei ihm ihren Ehe-Frust auszutoben, was Bett und Sprungfedern betraf; die freakige Esoterikerin, die ihm nach einem stundenlangen Ying- und Yang-Bums auf der siebten Ebene der Energie zum Dank hinterher ins Bett pißte, und die Nacht schließlich, in der er sich Brandblasen am Knie holte, weil er vor lauter Soave nicht bemerkt hatte, daß er im Aschenbecher mit den noch glimmenden Kippen kniete, als Sylvie ihn auf den Fußboden gezerrt und sich ihm a tergo angeboten hatte – so wahl- wie zügellose Bekanntschaften, die dennoch nie und in keinem Augenblick die innere Leere zu übertönen in der Lage gewesen wären und waren, entmenschte Unbeziehungen auf der einen Seite und auf der anderen schließlich das anderthalbjährige Verhältnis mit der Frau eines seiner engsten Freunde, unter dem sie alle drei gelitten hatten. |
Und nun war sie plötzlich wieder in der Stadt – sie, die ihn zerfetzt, sie, die ihm das Fleisch von den Knochen gerissen hatte, sie, die sozusagen der Urknall all der über alle Maßen facettierten Verzweiflung gewesen war: Sie war zurückgekommen nach all den Jahren, und die Wunden waren aufgebrochen, als hätte sie sie gestern erst gerissen, und bluteten wie am ersten Tag. Morgan drehte die vorgedruckte Karte in den Händen, auf der sie ihm so wortlos, wie sie damals gegangen war, ihre neue Adresse und Telefon-Nummer mitgeteilt hatte. Die Karte war abgegriffen und hatte kleine Risse an den Rändern, so oft hatte er sie in den wenigen Stunden seit ihrem Eintreffen schon in der Hand gehabt und wieder zur Seite gelegt. Still crazy after all these years, sang Paul Simon. Morgan drehte das Radio ab, nahm den Hörer und wählte. Es dauerte einen Augenblick, ehe am anderen Ende abgenommen wurde. Ja?, fragte eine Frauenstimme, ihre Stimme. Sie hatte sich nicht verändert. Ich liebe dich, sagte er. Dann legte er wieder auf. Sie brauchte nicht zu hören, wie er weinte. |
(1985) |
![]() |
![]() |
|
![]() |