Halbwegs heile Gedanken

Rien ne nous rend plus grands
qu‘ une grande douleur.
(Alfred de Musset, „La Nuit de Mai“)
 
 

Perspektivismus als philosophisches Paradigma ist gut und schön, jedoch sollte man auch aufpassen, daß man beim andauernden Perspektiven-Wechsel nicht irgendwann den Boden, sprich: die eigene Grund-Perspektive, unter den Füßen verliert.

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Nietzsches „amor fati“, dieses Stockholm-Syndrom des maulhurenden Hosenscheißers: Wenn man sich bewußt und gezielt aus allen sozialen Bindungen und Kontexten ausgeklinkt hat, dann kann man gut mit dem Notizblock durch die Berg-Einsamkeit von Sils Maria latschen und hinterher auf dem Papier dröhnend von der „Kraft, die heraus will“, von der „Macht“ und irgendwelchen „starken Trieben“ schwadronieren. Andererseits: Daß dieses gestörte Hühnchen Lou Salomé, diese Fußnote der Geistesgeschichte der vorletzten Jahrhundertwende, die von Rilke bis Freud immer genau da auftauchte, wo es opportun erschien – daß dieses Hühnchen es auch noch gewagt hat, ein Buch über Nietzsche zu schreiben! Doch freilich: Wer weiß – im Gegensatz zu Friedrich Wilhelm – heute schon noch, wer Lou war. Soviel zum Thema „Perspektivismus“...

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Sich selbst zur Illusionslosigkeit als bestem, weil sicherstem Mittel zur Leidvermeidung zu erziehen ist noch die einfachste Aufgabe. Die weitaus schwierigere hingegen ist es, die schimärischen Illusionen selbst erst einmal als solche auszumachen – wie oft gaukeln uns nicht unsere Begierden als realiter erreichbare Ziele vor, was sich bei kalter rationaler Analyse letzlich doch nur als Luftschloß, Hirngespinst und Seifenblase erweist.

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Konsequentialismus vs. motivationale Deontologie: Frank Sinatras respektive Paul Ankas „My Way“, die heimliche Hymne all der Loser, die nie wirklich was auf die Reihe gekriegt haben und sich nun an dem Gedanken aufgeilen (müssen), wenigstens sich und irgendwelchen inneren Werten treu geblieben zu sein.

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Männlein, Weiblein und so weiter: Wenn man mit sich im Reinen ist, so heißt das unter anderem auch, daß man feste Bindungen zu und mit der Welt eingegangen ist, konkret: man nach außen gerichtete Neigungen, Ausrichtungen, ja: auch Leidenschaften entwickelt hat, die zu teilen, da die Bedürftigkeit keine oder allenfalls nur noch dann und wann eine minimale Rolle spielt, einzig Grundlage einer reifen, erwachsenen Beziehung zum anderen Geschlecht sein kann. Oder, um es mit den – ungeachtet aller sonstigen Vorbehalte (s. o.) – treffenden Worten Lou Andreas-Salomés zu sagen: „In großer Jugend verkörpert sich das, was man ideell erstrebt, unmittelbar in einer Person, und um dieser Identifizierung willen liebt man sie. Später, wo man Menschen und Ideen reinlicher trennt, wird nicht mehr ein Gott-Mensch gesucht, sondern man einigt sich in der gemeinsamen inneren Hingebung an das, was man gemeinsam verehrt und hochhält. Nicht mehr ein Mensch, der vor dem andern kniet, sondern zwei, die zusammen knieen“ (Lou Andreas-Salomé, in: Biographie/Lebensrückblick). Heißt: Beziehung ist kein normativer Begriff am Anfang eines Mann-Frau-Prozesses, sondern ein deskriptiver an dessen Ende, was zugleich impliziert, daß sich erst allmählich die Konturen dessen abzeichnen, was am Ende als Ergebnis greifbar wird – sei es schließlich doch gar nichts (was aller Lebenserfahrung nach auch nicht ganz so selten ist), sei es eine wie auch immer geartetete und definierte Freundschaft oder eben eine (Liebes-)Beziehung in all ihren denkbaren Nuancen und Schattierungen. Kurz: Mit sich und der Welt, wie sie ist, gleichermaßen im Einklang zu sein, ist notwendige Bedingung dessen, was man reife Bindung nennt. Beziehung kann in diesem Kontext also nur heißen, das, was ohnehin verehrenswert gefunden wird, mit einem Zweiten noch verehrenswerter zu finden.

Mit anderen Worten: Der circulus vitiosus ist ganz einfach: Wo die primäre Befriedigung des Bedürfnisses nach Wärme und Nähe, kurz: nach Liebe aus welchen Gründen auch immer versagt bleibt, da richtet sich dieses Bedürfnis – zunächst notgedrungen, dann jedoch aus Einsicht und Erkenntnis immer freiwilliger – auf sekundäre Libido-Fixierungen, auf „second hand“-Befriedigungen, wie immer sie konkret auch heißen mögen (Floressas Des Esseintes). Bleibt dieser Zustand über längere oder gar lange Zeit bestehen, so werden aus diesen „Krücken“ im Laufe der Zeit eigene Qualitäten, die nach und nach die primäre Bedürfnis-Befriedigung nahezu vollständig ersetzen, bildet sich allmählich ein eigener innerer Kosmos von Neigungen, Präferenzen und Leidenschaften heraus, eine Aristotelische außermoralische hexis sozusagen, zu der eine auch nur annähernde Kongruenz zu finden immer schwerer, wenn letztlich nicht gar unmöglich wird.

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Das ist das Problem von uns intellektuell-schöngeistigen Schwärmern: Daß wir immer wieder in die Falle der Versuchung tappen, aus dem „bigger than life“ von Kino, Oper und Theater, von Literatur und Poesie wider besseres Wissen doch noch irgendwie „life“ machen zu wollen.

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Die Zeit, so sagt man, heile alle Wunden. Doch im Begriff der Zeit ist auch der der Dauer enthalten, die der Schmerz noch anhält.

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Der Grat zwischen völliger persönlicher Freiheit und Autismus ist ein äußerst schmaler; fast will es scheinen, als sei dieser sogar der unabdingbare Preis, den wir für jene zu zahlen haben.

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Die Erkenntnis, daß es einzig unsere Schmerzen sind und unsere Niederlagen, die uns wirklich wachsen lassen, ist für sich allein schon deprimierend genug. Noch niederschmetternder jedoch ist es zu sehen, daß wir, wenn wir endlich bei unserer wahren Größe angekommen sind, manchmal zugleich auch schon den Zenit unseres Daseins überschritten haben und daß wir jetzt zwar endlich ernten können, die Früchte unserer bitteren Siege über uns selbst jedoch ganz anders aussehen, als wir uns das in der Blüte unseres Lebens (und unseres Leidens, wohlgemerkt!) vorgestellt, ja: erträumt haben.

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Es liegt in der Natur des nachdenklich-denkenden Menschen, daß, je deutlicher und klarer die großen, weit greifenden Linien am Horizont werden, er umso erbitterter jede zufällige und unfreiwillige Berührung mit dem Kleinen und Einzelnen als anmaßende Belästigung haßt.

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Das ist das Quälende an unserer Vernunft: Daß sie so viel über uns vermag, uns vor abträglichen Handlungen zu bewahren, und nichts über die Gefühle, die uns zu diesen Handlungen verleiten wollen.

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Daß man an etwas zugrunde gehen kann, ist zwar grausam, birgt jedoch zugleich auch einen Funken Hoffnung auf Erlösung in sich, wie schlimm diese zuletzt auch aussehen mag. Zu wissen jedoch, daß man es aushält – das ist die bestialischste aller Foltern.

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Erst im Unglück weiß man wahrhaftig, wer man ist“, konstatiert Stefan Zweig am Beispiel der letzten Lebensphase Marie Antoinettes und bindet damit zugleich das eigentlich uralte Wissen in neue Form. Gesetzt aber, wir nutzten – passiv – nicht nur die Ungunst der Stunde, wenn sie denn eintritt, um uns jeweils selbst ein weiteres Stück näher zu kommen, sondern hätten uns – aktiv – das „Gnóthi seautón“, das „Erkenne dich selbst“ als generelle, lebensbeherrschende Aufgabe, als gleichsam neuen kategorischen Imperativ gestellt – halten wir das wirklich aus, da Zweig 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr zu Ende zu denken, halten wir es wirklich aus, unser Unglück zu forcieren, zu suchen, uns bewußt und mutwillig in den Malstrom zu stürzen, einzig, um uns selbst auf die Schliche zu kommen? Und vor allem: Ist es das wirklich wert?

Einer freilich, dessen dionysischem „Lebe gefährlich!“ in den stillen, weltabgeschiedenen, aseptisch-autistischen Kammern von Sils Maria, Genua oder Turin jedes „Quidquid agas, age prudenter et respice finem!“ als Inbegriff apollinischer Ekel-Maximen vorgekommen sein muß, würde uns da sofort ein empörtes „Ja! Ja! Ja!“ entgegenschleudern (und in eben jenen aseptisch-autistischen Kammern ist wohl jedermann im ersten Aufschwung bereit, dieses „Ja! Ja! Ja!“ aus vollem Herzen, besser: aus vollem Kopfe zu unterschreiben). Wir aber, die wir uns bei aller Verehrung für das nach wie vor hinreißend-bestechende Gebäude aus Millionen von einzelnen Gedanken-Steinen nicht selbst – heutig und profan ausgedrückt – völlig aus „dem Leben“ ausgeklinkt haben, wir aber, die wir uns – sei es aus intuitiver Angst, sei es aus langwieriger und daher willentlicher Entscheidung – nicht vorsätzlich aus allen gesellschaftlichen und menschlichen Bindungen hinauskatapultiert haben, wir aber, die wir nicht bereit sind, den Preis der eisigen Isolation und des schließlich so faszinierend zu beobachtenden wie gleichwohl grausamen Untergangs des großen Einsamen zu zahlen, wir aber, denen – mit einem Wort – Philosophie in erster Linie nicht Aufschwung in luftleere Räume ohne Bodenhaftung mehr ist, sondern auch und vor allem Anleitung zum praktischen Handeln, zur aktiven Lebensbewältigung – wer hilft uns da bei unserer Suche nach dem gangbaren Mittelweg zwischen dem „Willen zur Macht“ (zur Macht über uns selbst und sonst niemanden!) und der Erfüllung dessen, was – im Kant‘schen Sinne – unsere Pflicht ist, auf der einen Seite und unserem natürlichsten Gefühl, dem der Schmerzvermeidung nämlich, auf der anderen?

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Offensichtlich muß etwas über das subjektive Erleben hinaus Allgemeinverbindliches dran sein an der Alternative, vor der jeder – auf seine Art, versteht sich – wohl schon einmal gestanden haben dürfte und bei entsprechender – Pech gehabt – Disposition sogar immer wieder stehen dürfte: nämlich sich im Winde zu biegen oder in ihm zu zerbrechen; offensichtlich muß es sich in der Tat um eine der Grunderfahrungen des Mensch-Seins handeln, wenn der Gedanke in den unterschiedlichsten Kontexten immer wieder auftaucht: „Ce monde où il faut que le cœur se brise ou se bronze“, formuliert Nicolas de Chamfort als „letzte Worte“ das Problem, „sein Leid besiegen oder von ihm besiegt werden, sterben oder etwas in sich abtöten“ läßt Balzac es in „Die Frau von dreißig Jahren“ eher en passant einfließen, „Allgemach pflegt sich bei einem Menschen, der auf dornenvollen Pfaden wandert, entweder Unterwerfung unter das Schicksal einzustellen, oder aber das Leid zerbricht den Menschen, und er steht nicht mehr auf, je nachdem, um welches Leid und um welchen Menschen es sich hierbei handelt“, demonstriert Gontscharow es am Beispiel des „Oblomow“, und Wilde schließlich gießt es – wie gehabt – in Aphorismen-Form: „With subtle and finely-wrought temperaments it is always so“, reflektiert er nach Dorians Zusammenbruch, „their strong passions must either bruise or bend. They either slay the man, or themselves die. Shallow sorrows and shallow loves live on. The loves and sorrows that are great are destroyed by their own plentitude“ (Bei sensiblen und feingearteten Temperamenten ist ist das immer so. Ihre starken Leidenschaften müssen sich biegen oder brechen. Entweder erschlagen sie den Menschen, oder sie sterben selbst. Seichter Schmerz und seichte Liebe leben weiter. Doch sind die Liebe und der Schmerz groß, dann werden sie vernichtet durch ihre eigene Überfülle) – noch Fragen?

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Je ausgeprägter auf der einen Seite das Triebleben eines Menschen ist und je rigider auf der anderen sein Gewissen, um so ekstatischer werden seine – wie auch immer gearteten – kreativen Leistungen sein, mit denen er als Ventil seine Ent-Lastung sucht. So wird man daher wohl auch kaum irren, wenn man hinter orgiastischen Hervorbringungen eher eine extreme innere Spannung zwischen Triebleben und Beißhemmung vermutet als einen Überfluß an ungefiltert überschäumender Lebensfreude.

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Die hinterhältigste Eigenschaft der Euphorie, jener nicht zu Unrecht als subjektives Wohlbefinden Schwerstkranker definierten Stimmungslage, der in der Regel fast zwangsläufig der Absturz in die noch furchtbarere Depression auf dem Fuße folgt – die heimtückischste Eigenschaft der Euphorie ist es, daß sie die aus der Erfahrung mit ihr gewonnenen Warnungen vor ihr trefflichst auszuhebeln und in den Wind zu schlagen versteht, sobald sie sich anschickt, vom Gemüt Besitz zu ergreifen. Und: Glaube nur keiner, man habe – außer vielleicht allenfalls einer spärlichen Zwischenetappe – schon etwas erreicht, solange man noch euphorisch ist: Euphorie ist der Lohn des Triumphes, des schnellen Erfolges über das ohnehin von vornherein Unterlegene. Ein Sieg hingegen sieht völlig anders aus, bezwingt in langem und hartem Ringen das Adäquate, bisweilen gar Übermächtige und entgilt – wenn überhaupt – den, der in den Abgrund gesehen hat (und mit ihm fertig geworden ist!), durch melancholisch erschöpfte Ermattung.

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Wer es nicht schafft, sich irgendwann selbst zu finden, braucht dennoch nicht zu verzweifeln, denn immerhin kann er ja noch einen Ehepartner finden. Sollte er allerdings auch das nicht auf die Reihe kriegen, dann freilich hat er wirklich schlechte Karten.

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Allen unglücklichen Naturen ins Stammbuch (als Trost, Ermunterung, Genugtuung oder auch nur raison d‘ être): „Wer die primäre, mütterliche Liebe nicht empfangen hat, dem wird sehr oft die Liebe zum Primären, zur eigenen Lebendigkeit fehlen. Wem es an grundlegender Lebensbejahung mangelt, nicht aber an stolzem Selbstbewußtsein, der ist dafür disponiert, auf alles Lebendige jenen verfremdenden Blick zu werfen, aus dem die Philosophie kommt“, konstatiert Rüdiger Safranski in seiner hinreißenden Schopenhauer-Biographie; doch auch der Umkehrschluß hat durchaus etwas für sich: Wer voll ist von jener „grundlegenden Lebensbejahung“, der dürfte vermutlich kaum prädestiniert sein, Gedankengebäude zu schaffen; wer sich aus dieser „Liebe zum Primären“ in eben ihr und in ihm erschöpft, wird vermutlich kaum je Welten konstruieren, geschweige denn sie bauen. In extremis gibt es wohl nur die beiden Möglichkeiten – aufzugehen im sinnlichen Augenblick oder aber ihn zum Anlaß zu nehmen und hinter ihm den allgemeinen Fall, die Regel zu suchen, zu finden und schließlich zu systematisieren (was, auch das sei nicht vergessen, verbunden ist mit einem Übermaß an Selbstdisziplin, da sich die Sinnlichkeit gleichwohl nicht aus der Welt und vor allem nicht aus dem Menschen diskutieren läßt; Schopenhauer selbst wußte, wovon er sprach, als er forderte: „Darum lerne der Mensch frühzeitig, die Einsamkeit zu ertragen"); in extremis, noch einmal, dürfte es bei der Disposition des Mangels an „grundlegender Lebensbejahung“ wohl nur die Möglichkeit geben, bei der Jagd nach dem Primären von Punkt zu Punkt zu irren, oder aber – mit eingeräumtermaßen immensem Kraftaufwand – sein Leben mit ihm als fester Linie in den Dienst des „verfremdenden Blicks“ zu stellen: „Denn wie unser physischer Weg auf der Erde immer nur eine Linie ist und keine Fläche; so müssen wir im Leben, wenn wir Eines ergreifen und besitzen wollen, unzähliges Andres rechts und links liegen lassen, ihm entsagend. Können wir uns dazu nicht entschließen, sondern greifen, wie Kinder auf dem Jahrmarkt, nach Allem, was uns im Vorübergehn reizt; dann ist dies das verkehrte Bestreben, die Linie unseres Wegs in eine Fläche zu verwandeln: wir laufen sodann im Zickzack, irrlichtern hin und her, und gelangen zu Nichts. Wer alles sein will, kann nichts sein“, gibt Schopenhauer selbst in der „Metaphysik der Sitten“ zu bedenken.

Machen wir also aus der Not eine Tugend (wobei, wenn wir unseren Gedanken konsequent zu Ende gedacht haben, die – freilich nur noch rhetorische – Frage im Raum steht, was denn da Not und was Tugend ist): Geht es – und wo sonst wäre der Mensch Mensch? – um die glasklare Analyse, den messerscharfen Gedanken und die von keinem persönlichen Interesse getrübte luzide Logik, so wird wohl kaum gut beraten sein, wer sich mit dem sich in seinem kleinen Glück sonnenden Pfahlbürger ins Benehmen setzt. Heißt, erneut: Wer – ex negativo – nie aus jener inneren Disposition des Fehlens der „Liebe zum Primären“ heraus gezwungen war und ist, die bisweilen gar bis an die Grenzen des Erträglichen gehende Schizophrenie von eigener Vitalität und abgrundtiefer Verwunderung über sie auszuhalten, wer – ex affirmativo – nie gelernt hat, als gleichsam unbeteiligter Beobachter neben seiner eigenen Lebendigkeit zu stehen, wer – mit einem Wort – nie über sich selbst hinaus zu sich als Exempel gelangt ist, der wird – wenn überhaupt je, was zu bezweifeln steht – allenfalls in Zu- und Ausnahmefällen etwas in die Welt setzen, das auch jenseits des Tellerrands eben jenes kleinen Glücks zu bestehen in der Lage ist. „Er war aus jenem Holz geschnitzt, aus dem die Natur ihre Helden – ihre Gesetzesgeber, Staatsmänner und Eroberer geschaffen hat: ein standhaftes Bollwerk großer Interessen, aber am häuslichen Kamin ein kaltes, lästiges, düsteres und unpassendes Wesen“, stellt Charlotte Brontë am Beispiel des St. John in „Jane Eyre“ lapidar fest, und La Bruyère gar verdichtet in den „Caractères“ kurz und bündig das kleine Glück zum Konzentrat: „Es scheint, daß die Ehe jedermann in seiner Sphäre festhält“ – wundert sich da noch immer jemand, daß mit Kant, Schopenhauer und Nietzsche die drei größten der Unseren ein Leben lang unverheiratet blieben?

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Je mehr einer seine Welt findet, um so mehr ist er für die Welt verloren, um so mehr verliert er die Welt und sie ihn – auch eine Definition von Einsamkeit.

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Schlimmer noch als nicht zu wissen, wofür man kämpft, ist, nicht zu wissen, wogegen man kämpft.

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Ja sicher heilt die Zeit alle Wunden. Tatsache ist aber auch, daß von jeder verheilten Wunde eine Narbe ohne Gefühl bleibt.

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Sich im Glücke zu behagen,

macht den Wert des Menschen nicht.

Uns‘re Elle mißt nach unten:

Wie steht er, wenn er zerbricht?

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Als Schopenhauer scharfsinnig feststellte, unser Leben bewege sich zwischen den beiden Polen Schmerz und Langeweile, hat er vergessen, die Einsicht in zwei gravierende Unterkategorien zu differenzieren: die (für eine lebendige Seele) schmerzende Langeweile und den durch lange Gewöhnung langweilig gewordenen Schmerz.

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Die härtesten und unerbittlichsten Prinzipien sind nicht die, die zu befolgen uns die uns umgebende jeweilige reale und konkrete Außenwelt abfordert (und die – nebenbei – daher mit auch nur mediokrer intellektueller Begabung vergleichsweise einfach zu unterlaufen sind), sondern die, die wir uns selbst auferlegen. Denn nichts ist schwerer zu beschwichtigen als die Stimme unseres Gewissens, und sie zum Schweigen zu bringen gar ist schlechterdings unmöglich.

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„Besser ein Opfer der Liebe! Als ohne sie noch leben!“, hat Hölderlin geklagt. Tauschen wir doch einfach die Worte: „Besser ein Opfer von Illusionen! Als ohne sie noch leben!“ Oder?

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Wer aus der Einsamkeit heraus gegen sie um Hilfe schreit, wird – wenn überhaupt – allenfalls in Ausnahmefällen auch gehört werden. Denn es liegt im Wesen des Alleinseins, daß der Mensch, der viel mit sich selbst spricht, im Laufe der Zeit eine ganz eigene Sprache entwickelt, die von einem bestimmten Punkt an ein Außenstehender nicht mehr versteht.

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Das ist der Unterschied zwischen Illusionen – und seien sie auch noch so unhaltbar – und dem Realitätsprinzip: Zwar schützt die Einsicht in das Leben, wie es ist, in aller Regel vor allzu großen Abstürzen und Verwerfungen; doch dafür macht sie dafür auch apathisch. Mit anderen Worten: So schön auf der einen Seite die (im günstigen Falle) durch intensive Schmerzerfahrung erarbeitete abgeklärte Desillusionierung im Kontext von Leidvermeidung auch ist, so hat sie doch einen gravierenden Nachteil: Die Illusionslosigkeit beflügelt leider nicht.

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Ist es nicht seltsam, daß man in Sachen Training zum harten (Über-)Lebenskampf weniger von den in ihrer Behaglichkeit schnurrenden, den blinzelnden letzten Menschen Zarathustras lernt als von den coolen, abgefahrenen, manchmal durchgeknallten und bisweilen sogar sogenannten kaputten Typen?

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Wer sich in Gefahr begibt, kommt in ihr um – wer aber nicht, bleibt genauso wenig am Leben. Einzig hat die erste gegenüber der zweiten Variante einen gravierenden Vorteil: Man kann sich zumindest in der Illusion wiegen, es habe sich um einen Akt der Freiwilligkeit, um eine bewußte Entscheidung gehandelt.

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Wenn es denn nicht zu ändern ist: Immer noch besser, unglücklich zu sein in durch Pflichtgefühl und Selbstdisziplin erworbenen und bewahrten geregelten Verhältnissen als in (durch Sich-gehen-Lassen und Nachgiebigkeit gegenüber der apathischen Verzweiflung beförderter) Verwahrlosung. Nur: Glaube bloß keiner, daß Pflichtgefühl, Selbstdisziplin und Verantwortungsbewußtsein auch nur einen Deut zum Wohl- oder auch nur Besserbefinden beitragen – hier irrt Kant (zumindest prima facie), und zwar gewaltig!

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Zwischen Merteuils „Nicht nach Genuß stand mir der Sinn, ich wollte wissen“ und Marx‘ Definition von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, von Nietzsches „amor fati“ über Camus‘ „Man muß sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“ bis hin zu Koestlers Rubaschow („Sonnenfinsternis“): Ist es nicht immer wieder hinreißend, Zeuge der mannigfaltigsten Facetten der Möglichkeiten des menschlichen Intellekts zur Paranoia zu werden? Ist es nicht wunderbar, sich der sinsistren Faszination unseres Reflexionsvermögens zu überantworten, wie es uns immer wieder dazu bringt, unsere ersten und ursprünglichsten Impulse am Ende einer so zwingenden wie bestechenden logischen Deduktion als absurd anzusehen und die Selbstverleugnung, Selbstvergewaltigung gar als das höchste vorstellbare Glück zu feiern?

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Quel crime avons-nous fait
pour mériter de naître?
(Alphonse de Lamartine, „Le désespoir“)

Was das Leben dann und wann für ein paar Minuten doch interessant und reizvoll macht – ich rede nicht von „schön“: Sigmund Freud irrte nicht, als er lapidar konstatierte: „Von Glück steht nichts im Schöpfungsplan“ – was das Leben dann und wann für ein paar Minuten doch interessant und reizvoll macht, ist nicht zu tun, was wir wollen (was, nebenbei bemerkt, auch ziemlich langweilig wäre), sondern zu sehen, wie wir es schaffen, auch zu wollen, was unsere Pflicht ist, und zu beobachten, in welche Kanäle dabei unsere teils verborgenen, teils öffentlichen, auf jeden Fall aber rebellierenden Leidenschaften umgeleitet werden.

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Friedrich Wilhelm Nietzsche fortgedacht: Schlimmer noch als das „Weh dem, der keine Heimat hat“ („Mitleid hin und her“) ist ein „Weh dem, der keine Heimat mehr hat“, und Dante wußte, wovon er sprach, als er feststellte: „Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria“ (kein größerer Schmerz als im Unglücke sich erinnern der einst schönen Zeiten). Denn der Heimatlose mag instinktiv und intuitiv den Mangel empfinden, unter dem er leidet, doch erst der (s)einer Heimat Beraubte weiß, wessen er verlustig gegangen ist. Deshalb war Adams und Evas Strafe nicht die Paradieslosigkeit, sondern die Vertreibung aus ihm, deshalb ist das Kristofferson/Joplin‘sche „freedom‘s just another word for nothing left to lose“ zwar eins der geflügelten Worte von inzwischen gleich mehreren Generationen, in der Praxis hingegen als Maxime allenfalls tauglich für spätpubertäre Lebensentwürfe, deshalb bringen sich Bankrotteure weitaus eher um als arme Kirchenmäuse von Hause aus, und daher der weitaus größere Schmerz selbst des banalsten Liebeskummers gegenüber der Melancholie einer nie aus ihrem ruhigen Flusse abgelenkten Einsamkeit.

                  
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